Andreas Manak
Vorwort des Herausgebers in: Andreas Manak (Hg), Herwig Steiner, Gesetz und Verbrechen

Editor’s Preface

Vor rund sechs Jahren entschloss ich mich, direkt über meinem Schreibtisch die Arbeit „207f/10/2000″ (aus der Reihe der „Pre-Prints“) von Herwig Steiner aufzuhängen – äußerlich gesehen ein klassisches Tafelbild, aber nicht „schön“ im Sinne einer herkömmlichen Ästhetik. Die Vielschichtigkeit des Umgangs mit Text, wie sie Steiner in seiner Kunst schon damals zum Ausdruck brachte, faszinierte und verstörte mich ebenso wie die meisten anderen Betrachter. Erst heute, nach vielen Diskussionen mit dem Künstler und der täglichen Konfrontation mit den „Pre-Prints“ beginne ich, deren Funktionsweise zu verstehen. Die perfide Doppelbödigkeit, scheinbar rationale Texte über Kunst zu Kunst zu machen, über die wieder rationale Kunstkritiken geschrieben werden, ist in der Tat schwer zu ertragen. Das Konzept erinnert an die Bilderfluchten, die durch gegenüberliegende Spiegel erzeugt werden ebenso wie an die irritierenden Bilder von M. C. Escher, in denen der Betrachter mit allen nur erdenklichen Tricks hinters Licht geführt wird. Während Escher jedoch mit der rein optischen Täuschung auf einer physikalischen Ebene operiert und dadurch die Scheingewissheit der Wahrnehmung entlarvt, integriert Herwig Steiner die Meta-Ebenen des Bewusstseins, der Interpretation und der dieser zugrundeliegenden „präformierten“ Werte. Aus der Kritik der Wahrnehmung wird Erkenntniskritik, die auf die Existenz (Steiner würde wohl sagen: Vorherrschaft) rational unentscheidbarer Sätze innerhalb unseres Wahrnehmungssystems hinweist. Es gibt keine Wahrheit, die alleine auf Sinneswahrnehmung beruht, jede Wahrnehmung erfolgt bereits durch einen Wertefilter. Erst wenn wir dies in der vollen Tragweite erkennen, könnten wir uns der Frage zuwenden, ob es überhaupt einen rationalen Diskurs über Werte geben kann.

Dieses Buch wiederholt nun die Doppelbödigkeit der Steiner’schen Kunst. Es liefert eine sinnliche und sinnhafte Erfassbarkeit zweier zentraler Werke von Herwig Steiner und es enthält Beiträge von Autoren, die sich auf ganz unterschiedliche Weise dieser Kunst nähern. Im Sinne von Steiner sagt die Art und Weise dieser Annäherung wohl mehr über sie selbst als über die Kunstwerke aus. Insofern ist dieses Buch keine „objektive“ Beschreibung der beiden Kunstinstallationen, sondern selbst ein Artefakt, das sich in seinem eigenen Beschreibungsobjekt semantisch und optisch spiegelt. Im Vordergrund stehen die beiden jüngsten Installationen von Herwig Steiner: „Gesetz und Verbrechen“ und „Not one more execution!“ samt kunstkritischen und (rechts-)politischen Reflexionen. Darüber hinaus werden die „Pre-Prints“ – eine wichtige Vorstufe zu den aktuellen Werken – dargestellt. Die Originalsprache von „Gesetz und Verbrechen“ ist Deutsch, die Originalsprache von „Not one more execution!“ ist Amerikanisch. Die damit vorgegebene Zweisprachigkeit wird durch die Übersetzung der Artikel und Essays sowie der vom Künstler verwendeten Quellentexte in die jeweils andere Sprache unterstützt.

Der erste Abschnitt des Buches enthält kunstkritische Essays über die Arbeiten Herwig Steiners von Sabine Folie, Oliver Elser und Martin Prinzhorn, den Nachdruck eines zeitgeschichtlichen Aufsatzes von Frau Univ.-Prof. Dr. Erika Weinzierl mit dem Titel „Religiöser Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit“ 1 und eine persönliche Stellungnahme des Herausgebers. Des weiteren enthält dieser erste Teil einen Dialog zwischen dem Künstler und Lucas Gehrmann über „Attrappen, Pre-Prints und erweiterte Malerei“. Der rechtspolitische Essay von Univ.-Prof. Dr. Manfred Nowak mit dem Titel „Todesstrafe: Rache statt Gerechtigkeit“ wird wegen des thematischen Zusammenhangs im Anschluss an die Reproduktion von „Not one more execution!“ abgedruckt.

In einem zweiten Abschnitt folgen die beiden Glas-Installationen, zerlegt in zahlreiche digital reproduzierte Farbtafeln. Diesen quasi-authentischen Detailaufnahmen fehlt die räumliche Tiefe, sie erleichtern aber die Erfassung der Mikrostruktur des Werks. Dem gegenüber stehen einige Raum- und Installationsansichten von Walter Ebenhofer, dessen Fotos die architektonische Hybridfunktion als Bild, Wand, Tür betonen.

Herwig Steiner hat in seinen Werken die Texte grafisch bearbeitet und durch Größe, Zeilenumbruch und optische Effekte differenziert, aber – anders als noch in seinen „Pre-Prints“ – stets darauf geachtet, dass sie lesbar bleiben. Um die Rezeption der Texte zu erleichtern, werden im Anschluss an die Farbtafeln die Quellentexte in Druckschrift wiedergegeben, wobei die im Kunstwerk verwendeten Passagen in die jeweils andere Sprache übersetzt wurden. Die Farbtafeln sind mit Piktogrammen gekennzeichnet, die auf den entsprechenden Originaltext samt Übersetzung verweisen.

„Gesetz und Verbrechen“ besteht aus vier Glastafeln, die Ausschnitte aus den Nürnberger Rassengesetzen und deren Durchführungsverordnungen enthalten. Ein besonderer Aspekt dieses Werks ergibt sich aus dessen Standort in einem Haus am Stephansplatz, unmittelbar gegenüber dem Stephansdom, „dem“ Wahrzeichen des katholischen Österreichs. Die zahlreichen Bezüge zwischen dem politischen (insbesondere dem nationalsozialistischen) Antisemitismus und der katholischen Kirche werden durch den Aufsatz von Erika Weinzierl deutlich gemacht. Als Hintergrundinformation zum religiösen Antisemitismus der Zwischenkriegszeit wird auch ein Auszug aus dem Buch von Bischof Alois Hudal, „Grundlagen des Nationalsozialismus“ 2, abgedruckt.

Beim Abdruck der Original-Texte aus den deutschen Reichsgesetzblättern wurde bewusst auf die Verwendung von Faksimiles verzichtet, weil die seinerzeit übliche Frakturschrift heute zusehends Ikonencharakter für neonazistische Kreise erlangt hat. Um den inhaltlichen Kontext nicht zu zerstören, werden die Originalquellen auch dort vollständig wiedergegeben, wo der Künstler nur Ausschnitte verwendet. Übersetzungen wurden jedoch nur bei den im Werk enthaltenen Passagen hinzugefügt. Die Übersetzung lehnt sich weitestgehend an das Original an. Für manche nationalsozialistische Begriffe hat sich ein im Englischen üblicher Terminus (oft unter Verwendung deutscher Wörter) herausgebildet (deutsch: „altes Reich“, englisch: „Altreich“). Im Zweifel wurde der deutsche Begriff beibehalten und beim ersten Vorkommen eine Näherungsübersetzung in Klammer angefügt.

Dem Werk „Not one more execution!“ liegt ein umfangreicher schriftlicher Bericht aus dem Jahr 2000 mit dem Originaltitel „Reasonable Doubts: Is the U.S. Executing Innocent People? A Report of the Grassroots Investigation Project“ zugrunde. 3 Der Bericht enthält 15 detaillierte Fallstudien über Personen, die zwischen 1974 und 2000 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, obwohl sie mit großer Wahrscheinlichkeit unschuldig waren. Der Bericht ist auf mehreren Internet-Seiten veröffentlicht. 4 Herwig Steiner hat von den fünfzehn Fällen des Berichts acht ausgewählt und auszugsweise für die dreizehn Glastafeln von „Not one more execution!“ verarbeitet. Der Titel des Werks von Steiner stammt nicht aus dem Bericht selbst, sondern von einer Kampagne der Organisation Equal Justice USA, die im Jahr 1997 gestartet wurde, um eine Initiative der amerikanischen Rechtsanwaltsvereinigung (Bar Association) gegen die Vollstreckung der Todesstrafe zu unterstützen. 5

Im Anschluss an die digital reproduzierten Farbtafeln werden die Originaltexte der acht Fallstudien samt Übersetzung vom Amerikanischen ins Deutsche wiedergegeben. Bei der Übersetzung ist zu berücksichtigen, dass das amerikanische Gerichtsverfahren in vielen Punkten stark vom kontinental-europäischen abweicht und sogar von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden ist. Es wurden daher möglichst weitgehende Entsprechungen gesucht, eine exakte Übertragung der amerikanischen Terminologie ins Deutsche war aber nicht immer möglich. Zusätzlich werden die Kapitel 1 bis 4 des Reports im Original (ohne Übersetzung) wiedergegeben. In diesen Kapiteln werden die historischen und methodischen Grundlagen des Berichts dargestellt und die wesentlichen Ergebnisse einschließlich daraus abgeleiteter politischer Forderungen zusammengefasst.

Der Teil „Pre-Prints I“ enthält eine Übersicht über die künstlerische Ausgangsposition von Herwig Steiner. In der zwischen 1999 und 2004 entstandenen Serie von Collagen (ursprünglich Papier und Folie mit computergeneriertem Tintenstrahldruck, später nur Folie) unter dem Sammeltitel „Pre-Prints“ erarbeitete Steiner wichtige theoretische Positionen und Gestaltungselemente, die in den aktuellen Glas-Installationen kulminieren. Die „Pre-Prints“ werden durch Faksimiles, Ausstellungsfotos und Texte von und über Herwig Steiner dargestellt.

Andreas Manak, im November 2006

Some six years ago, I decided to put up Herwig Steiner’s art work „207f/10/2000“ (part of the „Pre- Prints“ series) directly above my desk. On the surface, it is a classical panel painting although not a „beautiful“ one in terms of conventional aesthetics. The complexity in dealing with texts, which Steiner already had expressed in his art back then, fascinated and disturbed me like most other witnesses. Only today, after lengthy discussions with the artist and daily confrontation with the „Pre-Prints,“ am I beginning to understand the way they work. It is difficult to bear the treacherous ambiguity of turning apparently rational texts about art into art, which, once again, rational art critiques will be written about. The concept recalls the image-flight created by mirrors set facing one another as well as the disturbing pictures by M. C. Escher, which deceive the spectator by all conceivable tricks. Whereas Escher works with purely optical deception at a physical level and thereby unconceals the pseudo-certainty of perception, Herwig Steiner integrates the meta-levels of consciousness, of interpretation, and the „pre-formed“ values on which these levels are based. Thus, the critique of perception turns into an epistemological critique, which points to the presence of (Steiner would certainly say, dominance of) rationally ambiguous (i.e., undecidable) propositions within our system of awareness. There is no truth that rests on sensual perception alone, all awareness is filtered through values. Only when we recognize all of the consequences that these facts bear, can we turn to the question of whether it is possible to have a rational discourse on values at all.

This book repeats the ambiguity of Steiner’s art. It delivers a sensual and sense-based ascertainment of two of Herwig Steiner’s central works and it contains contributions from authors who approach this kind of art in entirely different ways. In keeping with Steiner, the ways and means of this approach reveal more about themselves than about the artworks. To this extent, this book is not an „objective“ description of the two art installations, but instead, itself an artifact that semantically and optically mirrors itself within its own object of description. In the focus will be Steiner’s two most recent installations, „Gesetz and Verbrechen/Law and Crime“ and „Not one more execution!“. The original texts of „Law and Crime“ are in German; the original texts of „Not one more execution!“ are in U.S.-English. The inherent bilingualism is supported by translation of the articles and essays as well as the source texts that the artist has used.

The first part of the book contains essays on Steiner’s works from art-critiques such as Sabine Folie, Oliver Elser, and Martin Prinzhorn, the reprint of a contemporary history article by Professor Erika Weinzierl, „Religious Anti-Semitism in the Inter-War Period,“ 1 and a personal statement by the editor. Furthermore, this first part of the book includes a dialogue between the artist and Lucas Gehrmann about „Attrappen/decoys, Pre-Prints, and extended painting.“ In keeping with the theme, following the reproduction of „Not one more execution!“ is a juridical essay by Professor Manfred Nowak, „Capital Punishment: Revenge, not Justice“.

In the second part of the book are the glass installations, decomposed in a numerous digitally reproduced color plates. These quasi-authentic detail shots lack spatial depth: they do, however, make it easier to comprehend the work’s micro-structure. They are contrasted by several room and installation views by Walter Ebenhofer, whose photos emphasize the art piece’s architectural hybrid function as image, wall, and door.

In his works, Herwig Steiner has graphically processed the texts and varied them through size, line breaks, and optical effects but other than in his „Pre-Prints“ — always makes sure that they remain legible. To facilitate the reception of the texts, in this book, the source texts will be printed after the colour plates. The sections used in the art works are translated into either English or German respectively. The colour plates are marked with pictograms that refer to the corresponding original text source and its corresponding translation.

The four glass panels of „Law and Crime“ contain excerpts from the Nuremberg laws and their ordinances for execution. A special aspect arises from the art work’s location in a building on Stephansplatz, immediately opposite St. Stephan’s Cathedral, „the“ symbol of Catholic Austria. The numerous connections between politi-cal (in particular Nazi) anti-Semitism and the Catholic Church are clarified in the essay by Erika Weinzierl. An extract from the book by Bishop Alois Hudal, „Grundlagen des Nationalsozialismus“ (Fundamentals of Nazism) 2, is printed as background information on religious anti-Semitism in the interwar period.

In printing the original texts from the Law Gazette of the German Reich, the use of facsimiles has been consciously avoided as nowadays, the Gothic fonts common at the time has acquired an increasingly iconic significance in neo-Nazi circles. In order not to destroy the context for this content, the original sources are reprinted in full in those cases where the artist has used only excerpts. However, translations are provided for only the excerpts used in the works. The trans-lations are as close to the original as possible. An English usage has developed (often using German words) for some Nazi terms (German: „altes Reich,“ English: „Altreich“). In case of doubt, the German term is retained and on first occurrence a rough translation is given in brackets.

The work „Not one more execution!“ is based on an extensive written report from 2000, originally entitled „Reasonable Doubts: Is the U.S. Executing Innocent People? A Report of the GrassRoots Investigation Project.“ 3 The report contains fifteen detailed case studies on people who were sentenced to death and executed between 1974 and 2000 although, with all probability, they were innocent. The report has been published on several websites on the Internet 4. Herwig Steiner chose eight of the fifteen cases, working excerpts of them into the thirteen glass panels of „Not one more execution!“ The title of Steiner’s work does not conic from the report, but from a campaign of the organization Equal justice USA, which was started in 1997 to support an initiative of the American Bar Association against the enforcement of the death penalty 5.

Following the digitally reproduced colour panels is a reproduction of the original texts of the eight case studies including a translation from English to German. In the translation it should be borne in mind that American legal proceedings differ on many points quite sharply from those in continental Europe, and they vary even from State to State. The attempt was therefore made to find the closest possible equivalents, but an exact translation of American terminology into German has not always been possible. Additionally, the chapters 1 to 4 of the report are reproduced as in original writing, without translation. These chapters present the historical and methodological basis of the report and summarize the essential results including the political demands derived from them.

The section „Pre-Prints I“ contains an overview of Herwig Steiner’s artistic approach. Under the collective title „Pre-Prints,“ in the series of collages created between 1999 and 2002 (originally paper and laminate film with computer-generated inkjet printing, later only laminate film), Steiner worked out important theoretical positions and design elements that culminate in the current glass installations. The „Pre-Prints“ are depicted in copies, exhibition photos, and texts from and about Herwig Steiner.

Andreas Manak, November 2006

Translated by Dream Coordination Office (Lisa Rosenblatt und Charlotte Eckler)


1  Erstveröffentlichung in: „Das Jüdische Echo“, Bd. 46, Oktober 1997, S. 109–114, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
2  Johannes Günther Verlag, Leipzig—Wien 1936
3  Eine Anfrage bei „Equal Justice“ hat ergeben, dass der mit dem Zusatz „preliminary“ veröffentlichte Bericht gleichzeitig der endgültige ist.
4  www.quixote.org/ej/grip/reasonabledoubt/report.html deathpenaltyinfo.org/mirror/article.php?scid=19&did=220 (mit zahlreichen weiteren Quellen zum Thema Todesstrafe)
5  www.quixote.org/ej/index.html


1  First published in “Das Jüdische Echo” vol. 46, October 1997, pp. 109–114; reprinted by kind permission of the author
2  Johannes Günther Verlag, Leipzig–Vienna 1936
3  A enquiry with Equal Justice has confirmed that the report, which when published was described as “preliminary”, is at the same time the final report
4  www.quixote.org/ej/grip/reasonabledoubt/report.html deathpenaltyinfo.org/mirror/article.php?scid=19&did=220 (with numerous other sources on the subject of the death penalty)
5  www.quixote.org/ej/index.html

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